Diese Rezension beginn ausnahmsweise mit einem persönlichen Geständnis: Oft finde ich zu zeitgenössischer Lyrik keinen Zugang. Ich lese und erkenne die Worte, aber verstehe sie nicht. Ich folge dem Rhythmus der Zeilen, aber finde nicht den Takt. Ich fühle oder spüre eine Bedeutung, aber erschließe mir nicht den Sinn. Ganz sicher bin ich da kein Einzelfall, gemessen an den Verkaufszahlen von Lyrik scheint es vielen Leserinnen und Lesern ähnlich zu gehen. Gleichwohl versuche ich es immer mal wieder und kaufe einen Gedichtband. Wo ich den deponiere und lese, bleibt mein Geheimnis (das könnte allerdings lüften, wer sich noch an den einzigen außerhalb Kölns bekannt gewordenen Hit der Jürgen Zeltinger Band erinnert).

Jetzt ist mir ein Band in die Hände gefallen, der anders ist und mich lange beschäftigt hat: Jan Wagners „Selbstportrait mit Bienenschwarm“. Der 1971 geborene Autor gilt seit seinem Debut „Probebohrung im Himmel“ als einer der wichtigsten deutschen Gegenwartslyriker. Seine Gedichte wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Georg-Büchner-Preis. Die Süddeutsche Zeitung schrieb über Wagner, er sei „der beste Lyriker seiner Generation und eine der stärksten und originellsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Völlig zurecht, finde ich – wenn Lyrik, dann diese!

„Selbstportrait mit Bienenschwarm“ ist eine Anthologie mit Gedichten, die zwischen 2001 und 2015 entstanden und veröffentlicht worden sind. Mehr als 150 Gedichte sind es insgesamt. Viele davon – grob überschlagen die Hälfte – handeln im weitesten Sinne von Natur, meist sind es Ausschnitte, Miniaturen, überraschende Perspektiven und Aspekte, kurze Elegien oder Hymnen auf Pflanzen und Tiere. Jan Wagner schreibt über Frösche und Melonen, Wald und Nebel, Trapper und Moorochsen und und und. Vielleicht hilft eine Kostprobe, sich selbst ein erstes Bild zu machen:

Fenchel (aus „Probebohrung im Himmel“ von 2001)

knollen vor einem Gemüseladen im Winter – 
wie bleiche Herzen, sagtest du, gedrängt
in einer Kiste, wärme suchend – so daß wir

sie mit uns nahmen und nach Hause trugen,
wo feuer im kamin entzündet war,
wo kerzen auf dem tisch entzündet waren,

und ihnen halfen aus ihrer dünnen haut,
die strünke kappten, die zitternden blätter entfernten
und sie zu feinen weißen flocken hackten,

wartend, bis das wasser kochte,
die fensterscheibe blind war vom dampf.

Jan Wagner, Selbstportrait mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte, erschienen im Hanser Verlag, Taschenbuch, 256 S., 12,00 EUR

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