Wo auch immer heute „klimastabile Mischwälder“ gefordert werden, klingt im Akkord der Ruf nach einer massiven Reduzierung der Rehwildbestände mit. Das Eintreten der Jägerschaft für diese liebenswerte Wildart wird lautstark übertönt. Politik und Forstwirtschaft machten der „kleinen braune Waldschere“ am liebsten den endgültigen Garaus, so scheint es zumindest, und manch eine Drückjagd in den Landesforsten zeigt, wie das aussehen könnte.
Jetzt hat Rudolf Neumaier ein Buch vorgelegt, das den vermeintlichen Wald-(Reh-)Wild-Konflikt kritisch hinterfragt und mit deutlichen Worten die dahinter verborgenen Interessen der Forstwirtschaft offenlegt. Dabei lassen Autor, Verlag und Titel zunächst nicht auf solcherart Sprengstoff schließen: Neumaier war Feuilleton-Redakteur der Süddeutschen Zeitung, er ist zwar selbst Jäger, aber kein Vertreter jagdlicher Medien. Und der Hanser Verlag bewirbt das Buch im Internet als „faszinierende Kulturgeschichte des Rehs“. Tatsächlich finden sich darin auch Kapitel über das Reh in Kunst, Kultur und Geschichte sowie über die Biologie des kleinen Kulturfolgers. Mehr als die Hälfte des Buches nimmt aber ein langes Kapitel über das Reh als Politikum ein.
Das ist eine Art Reportage, basierend auf mehrjähriger Recherche, lebendig erzählt mit klarem Blick für ökologische, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge. Neumaier belegt darin unter anderem, dass das Thema „Wildschäden“ so alt ist wie die Forstwirtschaft selbst – aber erst in den modernen „Forstplantagen“ zum Problem gemacht wird. Seine Schlussfolgerungen sind eindeutig: Das Reh ist nur der „Sündenbock einer verfehlten Forstwirtschaft“, und der Wald-Wild-Konflikt ist ein „heuchlerisches Mantra der Forstleute“. Dagegen zeigen Erfahrungswerte und wissenschaftliche Studien, dass es durchaus möglich ist, Wald und (Reh-)Wild im ökologischen Einklang leben zu lassen.
Dieses Buch ist ein Wolf im Schafspelz. Man kann nur hoffen, dass es auch von denjenigen gelesen wird, die sich bislang vor den Karren der Forstwirtschaft spannen lassen und dabei glauben, sie handelten ökologisch. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Tun der Jägerschaft und weniger Schwarzweißmalerei wären dafür allerdings förderlich gewesen und hätten es diesem Leserkreis leichter gemacht.
Rudolf Neumaier: Das Reh. Über ein sagenhaften Tier, Hanser Verlag 2022, 224 Seiten gebunden, 24,00 Euro
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